Ralf Heinrich Arning
Der Wanderer zur Ruhe
E in Wandrer zog von Morgen her
Mit herzlichem Verlangen,
Gen Abend sucht er weit und weit
Das Thal, wo ihm in frischer Zeit
Das Leben aufgegangen.
Und wie er lange strebt und irrt,
Schaut er der Heimath Zeichen;
Ihn grüßt der Strom mit hellem Lauf,
Er sieht den grauen Berg hinauf,
Im Thal die alten Eichen;
Und ruht sich fröhlich an dem Strom,
Von Blumen frisch umfangen,
Der Berg steht jung, der Eichwald grün,
Im Strom die ew’gen Wellen ziehn,
Und ihm ist nichts vergangen.
Da pflückt er sich der Blumen Lust,
Wie in der Kindheit Stunden.
Er dünkt sich jung, er dünkt sich hell,
Es hat der wandernde Gesell
Beständiges gefunden.
Und liebend scheint die Fluth zu ruhn,
Ruft leise: komm zu schauen!
Und wie er sich hinüber bückt –
Sein Antlitz ihm entgegenblickt,
Und – blickt ihn an mit Grauen.
Und ach! er sieht den Traum dahin,
Sein Angesicht zerfallen;
Er trägt sein graues Haupt so schwer,
Er irrt mit mildem Blick umher,
Und sucht die Vaterhallen.
Die Vaterhallen kennt er dort –
Sie kennen ihn nicht wieder;
Ein fremdes Auge spricht ihm zu,
Die alte Liebe ging zur Ruh,
Und mahnt ihm stumm: komm wieder!
Und als er an dem Hügel kniet,
Wo sich die Gräber senken,
Der Klang der Abendglocke schweigt,
Heran die stumme Dämmrung schleicht,
Und banges Angedenken.
Und wie die Nacht so dunkel steht,
Was leuchtet durch die Weite?
Es schwebt ihm fern, es schwebt ihm nah,
Ein helles Weib steht vor ihm da,
Und ruft an seiner Seite.
Und schaut zu ihm, und spricht ihn an
Mit freundlicher Geberde:
„Vergangnes suchst du? Laß vorbei!
Vor allem Irdischen getreu
Blieb ich dem Sohn der Erde.
Auch kennst du mich von Alters schon;
Ich saß an deiner Wiege;
Im Spiel dem Knaben zugesellt,
Erschloß ich Jüngling, dir die Welt:
Nimm, was dir hold genüge!
Da griffst du weithin, und ich zog
Mit dir auf Vogel-Schwingen;
Du suchtest rastlos fort und fort,
Ich wollte dir am stillen Ort
Des Lebens Rosen bringen.
Und wie du nun zur Heimath kehrst,
Treu folgt’ ich deinem Stabe;
Mein Haupt, es ist mit dir gebleicht,
Die Freundin alt und zitternd reicht
Dir ihre letzte Gabe?“ –
„Und woher stammst du wundervoll?
Aus luft’gem Hauch geboren.
Wer bist du, treues Weib?“ – „Die Zeit!“ –
„Du hast in Fülle, was erfreut,
So gieb, was ich verloren.“ –
„Was mir geblieben, theilt’ ich dir:
Zur Ruh die kleine Hütte,
Traut, einsam, des Vergessens Ort,
Und meine Rosen pflanz’ ich dort
Auf grünen Daches Mitte.“
Sie sprachs in müder Mitternacht,
Ihr Haupt ward schlummertrunken,
Sie lehnt es sanft an seine Brust;
Er lag im Schlummer, unbewußt
Ihr in den Arm gesunken.
G. A. H. Gramberg.

Gerhard Anton Hermann Gramberg, «Der Wanderer zur Ruhe», in: Taschenbuch zum geselligen Vergnügen, herausgegeben von W. G. Becker, Zwei und Zwanzigster Jahrgang 1812, Mit Königl. Sächsischem allergnädigstem Privilegio, Leipzig bei Johann Friedrich Gleditsch, S. 45–48

Die Rechtschreibung wurde beibehalten, die Typographie, wie Ligaturen und langes S, wurde vernachlässigt.

Textauswahl und -erfassung
Ralf Heinrich Arning
Erstveröffentlichung: 07.09.2009
Letzte Änderung: 07.09.2009
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Gestaltung und Textauswahl: Ralf Heinrich Arning Erstveröffentlichung: 07.09.2009 Letzte Änderung: 17.11.2011
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