Ralf Heinrich Arning
Vormärzlicher Turnphilister
Auf ödem sandigen Platze
Tummeln die jüngeren Leut,
Zum eigentlichen Turnen
Hat Michel Koch keine Zeit.
Er ist Familenvater
Und Handelsmann dabei,
Doch ist er in der Gesinnung
Sehr frisch fromm fröhlich frei.
Das Turnen, sagen die Kenner,
Stärket nicht bloß den Leib,
Es kräftigt auch den Charakter
Und ist ein Zeitvertreib.
Drum sitzet der Turnphilister
Des Abends im trauten Verein
In einer billigen Kneipe
Und schenkt den Turnern ein.
Da wird der Geist gehoben,
Man liest die Zeitung auch,
Man ärgert sich bisweilen,
Und das verringert den Bauch.
Das macht die Kehle trocken
Und an Strapazen gewohnt,
Leicht, daß nicht alles so bleibet
Hier unter dem wechselnden Mond.
Vielleicht, daß einst sich’s füget,
Daß einst die Welt aufraucht,
Wobei man gute Lungen
Und gute Lebern braucht.
So muß der Mann von Jahren
Sich üben bei guter Zeit
Und in den Turnerkneipen
Hat er Gelegenheit.
Es flößet das Turnerwesen
Entschiedene Haltung ein,
Republikanische Größe,
Zum mindesten den Schein.
Doch Mäßigung und Erfahrung
Thut oft der Jugend not,
Darum verzehret im Wirtshaus
Michel sein Abendbrot.
Er giebt der Sach’ ein Ansehn
Und beugt dem Unfug vor
Und macht die Kneipe gemütlich
Mit langem Pfeifenrohr.
Und daß die Frau nicht murre,
Kommt er zu spät nach Haus,
So wirft er sonst einen Turner
Niemals zur Thür hinaus.
Ludwig Eichrodt
Ludwig Eichrodt, «Vormärzlicher Turnphilister», in Gesammelte Dichtungen, Zweiter Band: Kehraus, Stuttgart: Bonz 1890, S 408–410.

Die Rechtschreibung wurde beibehalten, die Typographie, wie Ligaturen und langes S, wurde vernachlässigt.

Textauswahl und -erfassung
Ralf Heinrich Arning
Erstveröffentlichung: 09.08.2011
Letzte Änderung: 10.08.2011
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Gestaltung und Textauswahl: Ralf Heinrich Arning Erstveröffentlichung: 09.08.2011 Letzte Änderung: 17.11.2011
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